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Marina

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Жанр Современная проза

Год 2012

Язык Немецкий

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Marina sagte einmal zu mir, wir erinnerten uns nur an das, was nie geschehen sei. Es sollte eine Ewigkeit dauern, bis ich diese Worte begriff. Doch ich fange besser am Anfang an, und der ist in diesem Fall das Ende.

Im Mai 1980 verschwand ich eine Woche lang vom Erdboden. Sieben Tage und sieben Nächte wusste kein Mensch, wo ich mich befand. Freunde, Kameraden, Lehrer und selbst die Polizei stürzten sich in die Suche nach dem Flüchtigen, den einige schon für tot hielten, während andere dachten, er habe sich in einem Anfall von geistiger Umnachtung in übel beleumdeten Straßen verirrt.

Eine Woche später glaubte ein Zivilpolizist diesen Burschen zu erkennen – die Beschreibung passte. Der Verdächtige irrte im Francia-Bahnhof umher wie eine verlorene Seele in einer aus Eisen und Nebel geschmiedeten Kathedrale. Der Beamte trat mit Detektivmiene zu mir und fragte mich, ob ich Óscar Drai heiße und der spurlos aus seinem Internat verschwundene junge Mann sei. Ich nickte mit zusammengepressten Lippen. Ich erinnere mich noch an die Spiegelung des Bahnhofsgewölbes auf seinen Brillengläsern.

Wir setzten uns auf dem Bahnsteig auf eine Bank. Bedächtig steckte sich der Polizist eine Zigarette an und ließ sie glimmen, ohne sie an die Lippen zu führen. Er sagte, eine Menge Leute brenne darauf, mir viele Fragen zu stellen, für die ich mir besser gute Antworten ausdenke. Wieder nickte ich. Er schaute mir in die Augen und beobachtete mich.»Manchmal ist es keine gute Idee, die Wahrheit zu erzählen, Óscar«, sagte er. Er reichte mir einige Münzen und bat mich, meinen Tutor im Internat anzurufen. Das tat ich. Der Polizist wartete das Ende des Gesprächs ab, gab mir Geld für ein Taxi und wünschte mir Glück. Ich fragte ihn, woher er wisse, dass ich nicht abermals verschwinde. Er schaute mich lange an.»Es verschwinden nur Leute, die auch irgendwo hingehen können«, antwortete er bloß. Er begleitete mich auf die Straße hinaus, wo er sich verabschiedete, ohne mich zu fragen, wo ich gesteckt habe. Ich sah ihn auf dem Paseo de Colón davongehen. Der Qualm seiner noch nicht angerauchten Zigarette folgte ihm wie ein treues Hündchen.

An diesem Tag meißelte Gaudís Geist unmögliche Wolken auf ein Blau, das einen fast erblinden ließ. Mit einem Taxi fuhr ich zum Internat, wo mich vermutlich das Exekutionskommando erwartete.

Vier Wochen lang bearbeiteten mich Lehrer und Schulpsychologen, mein Geheimnis preiszugeben. Ich log und bot jedem das, was er hören wollte oder akzeptieren konnte. Mit der Zeit gaben alle vor, diese Episode vergessen zu haben. Ich folgte ihrem Beispiel. Nie erzählte ich jemandem die Wahrheit.

Damals wusste ich nicht, dass der Ozean der Zeit früher oder später die Erinnerungen anschwemmt, die wir in ihm versenkt haben. Fünfzehn Jahre später ist die Erinnerung an diesen Tag zu mir zurückgekehrt. Ich habe diesen jungen Burschen im Dunst des Francia-Bahnhofs umherirren sehen, und Marinas Name hat sich erneut wie eine frische Wunde entzündet.

Wir alle haben im Dachgeschoss der Seele ein Geheimnis unter Verschluss. Das hier ist das meine.

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